Tchaikovsky, Pjotr I.

Symphony No. 4/Francesca da Rimini

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Orfeo C860 111A
erschienen in: das Orchester 05/2012 , Seite 77

Die Bedeutung von Andris Nelsons als einem der wichtigsten Dirigenten der jüngeren Generation unterstreicht auch die Fortsetzung seines erfolgreichen Tschaikowsky-Zyklus mit der 4. Sinfonie. Nelsons, 2011 mit einem Echo als „Dirigent des Jahres“ ausgezeichnet, punktet mit dieser Liveeinspielung mit dem von ihm seit 2008 geleiteten City of Birmingham Symphony Orchestra auch gegenüber hochkarätiger Konkurrenz wie der von Mikhail Pletnev oder dem sehr kammermusikalisch agierenden Christoph Poppen. Pletnev kann bei seinem zweiten Zyklus der Tschaikowsky-Sinfonien bei Pentatone die virtuose Souveränität seines Russian National Orchestra ebenso wie seine große musikalische Übersicht und die hervorragende Aufnahmetechnik ins Feld führen, wirkt aber gelegentlich etwas zu unterkühlt. Poppens Sicht auf die Vierte bei Oehms Classics mit der zuverlässigen Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken-Kaiserslautern ist von Entschlackung und Transparenz geprägt, vermeidet aber fast zu sehr die musikalischen Konflikte der Sinfonie Tschaikowskys.
Nelsons und seinen fulminant aufspielenden Musikern gelingt, unterstützt von einer die Lebendigkeit des Musizierens einfangenden Aufnahmetechnik, eine stets kontrolliert wirkende Virtuosität des Ausdrucks. Das einleitende Schicksalsmotiv der Vierten, das von Tschaikowsky im Finale quasi als Klammer für die Sinfonie benutzt wird, wird von Nelsons und dem CBSO mit größtem Nachdruck, aber ohne vulgäre Knalligkeit interpretiert. Die Blechbläser leisten hier Beeindruckendes. Die Balance von emotionaler Spannkraft und Durcharbeitung der differenzierten Partitur (Details der Holzbläser) macht den Rang dieses Mitschnitts aus Birmingham aus. Sentimentalität, die der Musik Tschaikowskys gerne nachgesagt wird, vermeidet der lettische Dirigent zudem mit spannungsgeladenen, vorantreibenden Tempi, auch wenn diese gelegentlich, wie im Finale, manche artikulatorischen Feinheiten etwas verwischen. Delikat erklingt das Andantino, geprägt von der hohen Kunst der Streicher und Holzbläser. Auch wenn die schicksalsmächtige Dunkelheit der Musik bestimmend ist, bei der biografische Umstände wie die vom Beginn an zum Scheitern verurteilte Ehe mit Tschaikowskys Schülerin Antonina Miljukowa nicht auszuklammern sind, schwelgt Nelsons nicht nur in düsteren Farben, sondern lässt das Kaleidoskopartige der Musik in ihrer Gegensätzlichkeit zum Tragen kommen.
Davon profitiert auch die Symphonische Fantasie Francesca da Rimini, 1877 ein Jahr vor der Vierten uraufgeführt. Die Virtuosität und die klangliche Opulenz des Birminghamer Orchesters wird von Nelsons stets kontrolliert in emotional packende Bahnen gelenkt. So unterstreicht diese CD auch, dass von der Weltliteratur Angeregtes wie Francesca und eine zumindest unterschwellig programmatisch geprägte Sinfonie wie die f-Moll-Sinfonie im Œuvre des Komponisten nicht als Gegensatz aufgefasst werden dürfen. Walter Schneckenburger

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