Tschaikowsky, Pjotr Iljitsch
Konzert für Violine und Orchester op. 35
hg. von Ernst Herttrich
Tschaikowskys Violinkonzert op. 35 (1878) zählt zu den beliebtesten Werken der Gattung. Gegenwärtig sind 204 Aufnahmen auf CDs lieferbar, und nach wie vor ist es das bevorzugte Werk junger Nachwuchsgeiger, die ihre klingende Visitenkarte vorlegen wollen. Die Popularität bei Musikern und Hörern gleichermaßen ist alles andere als rätselhaft: Es verbindet eingängige, immer noch frisch und unverbraucht wirkende thematische Erfindung mit spektakulär-glanzvoller Virtuosität und berührender Melodik in überschaubaren Formen. In allen Dimensionen besitzt es einen gewissermaßen selbstverständlichen musikalischen Gestus, ohne dass kompositorische Routine spürbar wird.
Und doch weist das Konzert eine immer noch unübersichtliche Entstehungsgeschichte und Überlieferung auf, die zu unterschiedlichen Werkfassungen führten. Ernst Herttrich stellt sie in der Einleitung und im Kritischen Bericht seiner vorzüglich gedruckten Edition vor. Auf die Gestaltung der Solovioline nahm der mit Tschaikowsky eng befreundete Geiger Josif Kotek großen Einfluss; er hat sogar in Tschaikowskys autografer Partitur die Solostimme eingetragen. Den ursprünglichen langsamen Satz schied Tschaikowsky aus und ersetzte ihn durch die Canzonetta. Die Partitur wurde erst 1888, also zehn Jahre nach der Komposition, veröffentlicht. Und vor allem glaubte dann auch noch Leopold Auer nach Tschaikowskys Tod, das Werk gründlich revidieren zu müssen.
Herttrichs Ausgabe macht zwar mit allen diesen Überlieferungsproblemen vertraut, kann sich aber leider nicht auf einige der wichtigsten Quellen umfangreich genug stützen, weil sie Herttrich nicht zugänglich gemacht wurden. Gleichwohl bietet die Ausgabe den wohl gegenwärtig besten Notentext des Werks und macht mit einer Fülle von sehr interessanten Varianten vertraut, die nun problemlos studiert werden können. Herttrich druckt sie zum Teil auch dankenswerterweise im Notentext ab. Leider markiert er selbstverständliche Ergänzungen durch Klammern oder Strichelungen; das wäre nur dann wirklich sinnvoll, wenn er eine Quelle ediert; er ediert aber ein Werk nach Quellen, die nun einmal immer Nachlässigkeiten aufweisen, die jetzt aber in seiner Edition auch noch besonders hervorgehoben sind.
Ein Problem hat Herttrich, der äußerst umsichtig und zuverlässig ediert, allerdings übersehen: Die Solostimme des Finalsatzes trägt zu Beginn die Anweisung senza sord. Aber in der vorangehenden Canzonetta findet sich in seiner Edition nirgendwo die Vorschrift con sord. Im Kritischen Bericht weist er jedoch nach, dass in zwei Quellen der Solostimme in der Canzonetta Takt 12 ausdrücklich con sord. (und nicht molto erpress.) vorgeschrieben ist. Herttrich hätte also entweder die Anweisung senza sord. im Finalsatz streichen oder aber die Vorschrift con sord. in der Canzonetta nach den beiden Quellen ergänzen müssen.
Giselher Schubert


