Nick, Edmund / Erich Kästner

Leben in dieser Zeit

Rubrik: CDs
Verlag/Label: cpo 8575714, 2 CDs
erschienen in: das Orchester 04/2011 , Seite 73

Das Faszinosum der 1920er Jahre als das kulturell wohl interessanteste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wird fortlaufend belebt durch neue Blicke auf Bekanntes und Entdeckungen von Unbekanntem. Zu Letzteren zählt das Funkspiel Leben in dieser Zeit, eine Produktion der Staatoperette Dresden. Das Radio wurde von vielen Komponisten wie Hindemith, Eisler, Weill aufgrund seiner Massenwirksamkeit geschätzt, sie schrieben radiogerechte Lehrstücke, Kantaten und Funkopern, auch wissenschaftlich und publizistisch begleitet. Ein Solitär ist dieses Funkspiel, dem eine Gattungsbezeichnung kaum zuzuschreiben ist, da Charakteristika verschiedenster Genres zusammengebracht wurden. Die Autoren nannten ihr Werk auch Kantate oder Oratorium, Revue wäre ebenso denkbar, freilich beraubt um die Szene. Aufgrund des großen Anklangs der Hörspielfassung (Erstausstrahlung am 14. Dezember 1929 vom Funkhaus Breslau) wurde das Stück für die Bühne umgearbeitet und bis zum Beginn der NS-Herrschaft häufig aufgeführt.
Erich Kästner kompilierte überwiegend frühere Gedichte, Edmund Nick, ab 1928 Musikchef des Breslauer Rundfunks, komponierte auf Aufforderung des Senders. Nick, heute eher vergessen, vielleicht noch als Musikschriftsteller und -kritiker bekannt, zeigt als Komponist eine sichere Feder für Eingängiges, dabei aber nicht Abgenutztes oder sich Anbiederndes. Er wechselt ohne Mühe zwischen Tänzen, Couplets, Operettenhaftem, zündenden Chorsätzen, dramatischen Instrumentalparts, stets in geschickter Instrumentation, die den Sing- und Sprechstimmen Raum lässt.
Erzählt werden in 17 Songs neben dialogischen Zwischenszenen Situationen, Gedanken und Gespräche aus dem Leben eines damaligen Normalverbrauchers, genannt Kurt Schmidt. Er verkörpert die anonyme Masse der städtischen Kleinbürger in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Alleinstehend, möbliert wohnend, als Buchhalter angestellt, mit einem immergleichen Tagesablauf, der nur am Wochenende durch den Besuch von Tanzveranstaltungen durchbrochen wird, hadert er mit der Sinn- und Folgenlosigkeit seines Daseins. Bereitet er in der ursprünglichen Gedichtfassung seinem Leben ein Ende, so verkündet er hier ein trotziges Weiterleben, mit der skeptischen Übergabe an die nächste Generation, weit entfernt z.B. von einer sozialistischen Lösung, die Brecht in seinem Film Kuhle Wampe zur Überwindung der sozialen Krise anbietet.
Die Aufnahme ist vorzüglich, der an die Operette gemahnende Duktus der Sänger kongruiert sehr gut mit Nicks einprägsamer Musik, deren Qualitäten bei mehrmaligem Hören sich steigern. Die Texte werden zuweilen etwas behäbig gesprochen. Ernst Theis leitet das Orchester präzise, auch mit dem nötigen Witz, um das Zeitkolorit einzufangen, der Chor zeigt sogar einen historisierenden Klang. Die Produktion ist sehr liebevoll realisiert, sie enthält zusätzlich Nachproduktionen von Geräuschcollagen und Ansagen, Alternativnummern, zwei historische Aufnahmen sowie Erinnerungen der Lyrikerin Dagmar Nick an die Arbeit ihres Vaters mit Kästner. Das informative Booklet, partiell etwas selbstreferenziell, wartet u.a. mit interessantem Foto- und Pressematerial auf. Es stimmt freudig, dass die „Edition Radiomusiken“ weitere Veröffentlichungen ankündigt.
Christian Kuntze-Krakau

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