Schostakowitsch, Dmitri
The Symphonies – complete recording
2006 jährt sich der Geburtstag Dmitri Schostakowitschs zum hundertsten Mal und es ist ebenso erstaunlich wie erfreulich, welche Anerkennung dieser Komponist in der letzten Zeit bei uns gewonnen hat. Es ist noch nicht lange her, da die Erwähnung seines Namens in geschmackssicher sich dünkenden Kreisen lediglich ein mitleidiges Lächeln hervorrief; nun ist er zu Recht als einer der Giganten der Musik des 20. Jahrhunderts etabliert eine Entwicklung, die sich nicht zuletzt auf dem Tonträgermarkt verfolgen lässt.
An Gesamteinspielungen von Dmitri Schostakowitschs Sinfonien herrscht kein Mangel, und noch vor dem Jubiläumsjahr ist nun der erste Schostakowitsch-Zyklus als SACD greifbar. Innerhalb weniger Jahre ab 2002 hat das Gürzenich-Orchester Köln die Werke unter der Leitung von Dmitrij Kitajenko aufgenommen. Bereits im vergangenen Jahr erschien als Vorabveröffentlichung die in jeder Hinsicht erstklassige Einspielung der achten Sinfonie: Mustergültig realisiert Kitajenko hier die Dringlichkeit der musikalischen Aussage zwischen schmerzhaftem Aufschrei, dunklem Grübeln und trauerverhangener Elegie mit allen ihm und dem in Bestform aufspielenden Orchester zur Verfügung stehenden Nuancen.
Angesichts einer solchen Sternstunde war die Erwartung auf den kompletten Zyklus begreiflicherweise sehr hoch. Zumindest in klanglicher Hinsicht wurde sie erfüllt: Ein Mehr an Brillanz und Tiefenschärfe bei gleichzeitiger Natürlichkeit ist schwer vorstellbar.
Künstlerisch bleibt indes der eine oder andere Wunsch offen. Kitajenko bietet eine rundum seriöse Interpretation der Werke. Offenlegung der thematischen Arbeit und der Transparenz des motivischen Geflechts stehen im Vordergrund. Der Dirigent schmäht jede Effekthascherei. Mit dieser Grundhaltung, zu der fast durchweg gemessene Tempi zählen, gelingen ihm einige imponierende Ergebnisse. Der Leningrader etwa fehlt nun jedes reißerische Element, die problematische Zwölfte gewinnt sinfonische Statur und Kitajenko ist einer der wenigen Interpreten, die es schaffen, die heikle Balance zwischen Groteske, Elegie und Tragödie in der Sinfonie Nr. 15 angemessen zu realisieren. Als ausgesprochen gelungen darf auch die neunte Sinfonie bezeichnet werden: eine gleichermaßen elegante wie bissige Interpretation wie aus einem Guss. Eine sichere Hand bewies Kitajenko bei der Auswahl der Gesangssolisten. Insbesondere der Bassist Arutjun Kotchinian weiß durch bedingungslose Identifikation mit den musikalischen wie textlichen Inhalten der Sinfonien Nr. 13 und 14 zu überzeugen.
Gelegentlich mangelt es Kitajenko jedoch am Mut zum emotionalen wie dynamischen Extrem, das den Partituren inhärent ist, und die Gediegenheit seines Ansatzes artet in Behäbigkeit aus. So gelingt es ihm beispielsweise nicht, im Kopfsatz der zehnten Sinfonie die Spannung aufrechtzuerhalten, und in der Vierten zerfällt die Musik in Einzelteile die stete Gefahr des Überkippens in den Wahnsinn, die sich etwa in dem katastrophischen Fugato des ersten Satzes manifestiert, ist bei Kitajenko nicht spürbar. Zähflüssiger hat dieses wagemutigste Werk des Komponisten wohl nie geklungen. Auch die Grotesken der Sinfonien Nr. 2 und 3 liegen dem Dirigenten deutlich weniger als der Ernst der mittleren Sinfonien.
Insgesamt jedoch überwiegt ein positiver Eindruck nicht zuletzt aufgrund der durchweg bravurösen Orchesterleistung. An der Präsentation der Beihefte ist nichts auszusetzen und als Zugabe gibt es ein Rundfunkfeature über die Entstehung dieses Projekts.
Thomas Schulz