Schlüter, Wolfgang

Die englischen Schwestern

Roman

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Eichborn, Frankfurt am Main 201
erschienen in: das Orchester 04/2011 , Seite 65

Am Ende möchte man sofort von Neuem beginnen. Die Fülle, mit der Die englischen Schwestern des in Berlin lebenden Autors und Musikwissenschaftlers Wolfgang Schlüter aufwarten, lässt sich mit der ersten Lektüre kaum begreifen. Furios in Konzeption, Perspektivierung und Sprache, sprüht hier ein Feuerwerk der Gedanken, wird europäische Kultur- und Geistesgeschichte der Neuzeit literarisch entfaltet und zugleich der ständigen Reflexion unterworfen.
Herzstück des Buchs bildet die Glasharmonika, jenes im Jahr 1761 von Benjamin Franklin erfundene, kuriose Instrument. Sein Klang muss den Autor besonders in Bann geschlagen haben und er legt im Roman der blinden Glasharmonikavirtuosin Marianne Kirchgeßner folgende Worte in den Mund: „Ich bin mir sicher, dass es Mozart darum ging, den Klang in seine Extreme aufzuspalten, in dieses Seraphische, sphärisch Entmaterialisierte einerseits und ins Dinghafte, Geräuschhafte andererseits, dieses ganz materielle Klirren, Schaben, Klimpern, Scheppern.“ Zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen englischer Kulturverehrung und Pessimismus oszilliert dieses Buch, zwischen Geist und Materie, zwischen den Träumen und Wünschen des Individuums und jenen großen Zusammenhängen, deren Wirken nur Geschichte und Philosophie fassen können.
Schlüter weiß wie seine literarische Figur Kirchgeßner, dass „alles akrobatisch Konzertante, das zur Schaustellung von Virtuosität eingesetzt wird, natürlich auch dazu dient, extreme Valeurs auszuloten. Es frappiert ja stets aufs Neue, dass Zirkuseffekte, die dem Affen Publikum seinen Zucker geben, einsteils die Konvention bedienen und gleichzeitig kühne Experimente sein können.“ So lässt sich auch das kühne Experiment seines Romans charakterisieren.
Denn es geht neben der Musik auch um die Vesuv-Malerei in Neapel zur Goethe-Zeit. Der fiktive deutsche Landschaftsmaler Johann Peter Hofmeister verschwindet eines Tages. Er hinterlässt ein Tagebuch, das einem Gehilfen des Leibarztes von Admiral Nelson in die Hände fällt, der diese Reflexionen über Kunst und Natur(-katastrophen), über das einsame Dasein des Künstlers transkribiert. Die Aufzeichnungen wirken durch die Zeiten weiter bis in das Berlin unserer Tage hinein. Ebendort beginnt Schlüters Roman, schreitet von dort aus in der Zeit zurück bis zu jenem Maler und, nach einem reflexiven Mittelkapitel, wieder vorwärts. Das zyk­lisch-konzentrische Bauprinzip lässt sich durch ineinander gesteckte russische Puppen verbildlichen – oder durch Kalotten, jene Kelche, die Franklin zum Bau seiner Glasharmonika verwendete.
Die Glasharmonika ist der Kulminationspunkt des Erzählers, der, wie seine Figuren (und seine philosophischen Lehrer Adorno und Benjamin), an der materialen Erfahrung von Geschichtlichem, am greifbar Ungreifbaren des Gewesenen hängt. Die englischen Schwestern sind der meisterliche Roman eines Melancholikers, der einen hingebungsvollen Trauergesang auf unwiderbringlich Vergangenes anstimmt, das – paradox genug – im Schreiben und der Lektüre einen Weg zurück in die Gegenwart findet, wieder zum Klingen gebracht wird.
Beate Tröger