Germann, Sabine
Zukunftsmodell Konzertpädagogik
Eine Studie zur Begegnung von Schulen und Sinfonieorchestern
In Kindergärten wird mangels Ausbildung der Erzieherinnen der existenziellen Bedeutung des kindlichen Singens nicht Rechnung getragen, Musikunterricht an den Schulen wird überhaupt nicht oder fachfremd erteilt, an den Gymnasien belegen in Hamburg gerade acht Prozent der Schüler die Wahlpflichtkurse Musik. Kinder werden die Schule verlassen, ohne je eine einzige Stunde Musikunterricht gehabt zu haben.
Auf der anderen Seite gibt es ein immenses Interesse an musikalischer Betätigung, wobei Sabine Germann in ihrer engagierten Studie (eine Diplomarbeit der Uni Hildesheim im Studiengang Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis) anmerkt, dass das kulturelle Erbe immer mehr den nicht privilegierten Schichten vorenthalten wird. Ihnen bleibt die Vielfalt einer musikalischen Hochkultur fremd. An ihre Stelle gerät eine einseitige Prägung durch die Medien, was die demokratische Chancengleichheit bedroht.
Wenn die Autorin in ihrer Bestandsaufnahme dann am Beispiel von Johannes Raus Berliner singendem und klingendem Bellevue den Aufbruch Musikerziehung anspricht, wird man das Gefühl nicht los, Sonntagsreden zu hören. Sodann schreibt Germann, dass sie das Zitat Das Orchester ist tot aus der Neuen Zürcher Zeitung überpointiert fände. Später kritisiert sie jedoch, dass gerade ein Orchester wie die Berliner Symphoniker, das sich um Vermittlungsarbeit seit langem besonders verdient gemacht habe, abgewickelt worden sei. Anscheinend ist die Lage also doch ernst.
Vermittlung ist zentrales Thema dieser Studie und die Autorin stellt fest, es gehe darum, nachwachsende Generationen für die Erlebnisqualität des klassischen Sinfoniekonzerts zu begeistern. Sie stellt drei unterschiedliche Wege vor, die von MTV geprägte Generation Spaßkultur einzubinden in ein ihr fremdes Kulturverhalten. Zum einen der betont eigenschöpferische Zugang des Education-Programms Zukunft @BPhil der Berliner Philharmoniker. Simon Rattle hat es aus dem vermittlungsfortschrittlichen England mitgebracht. Es stellt sich als herausragend dar, weil es nicht nur Musik als körperhafte Erfahrung nahe bringt, sondern nichts weniger als (musikalische) Sozialarbeit ist. Das Jugend horcht!-Projekt der Münchner Philharmoniker ist traditioneller ausgerichtet (z.B. Probenbesuche), hat aber einen Trumpf in der Hand, nämlich von Schülern selbst moderierte Konzerte. Treffpunkt Philharmonie der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz schafft Nähe und Einbindung, also emotionale Kontakte, durch Patenschaften von Orchestermusikern für Schulklassen.
Alle Problemfelder dieser Vermittlungsarbeit werden vorgestellt: mangelndes Personal, ehrenamtliche Mehrarbeit, Widerstände der Schulleitung und Lehrerkollegen wegen Unterrichtsversäumnissen sowie die Probleme von überforderten Orchestermusikern, die keine pädagogische Ausbildung haben. Die Erfolge werden, wenn nicht bewiesen, so doch glaubhaft beschrieben. Germann sieht zwar Sponsoren in der Pflicht, zweifelt aber an der Nachhaltigkeit und entlässt den Staat keineswegs aus der Verantwortung. Auch nicht aus der Verantwortung, für Verhältnisse zu sorgen, die den von ihr zitierten Hans Günter Bastian dazu bringen, einen KMK-Bericht als fantasievollen Sollbericht und die angesprochenen Stundendeputate schulischen Musikerunterrichts als Lichtjahre entfernt von der Realität zu bezeichnen.
Musikvermittlung ein Spagat zwischen zwangsläufig eigennützigen jugendorientierten Marketingstrategien und moralisch-pädagogisch orientiertem Gemeinnutz? Sabine Germanns schmalem Bändchen gelingt es, die Idee zu stärken, dass beides zusammenpasst.
Günter Matysiak