Laubhold, Lars E.
Von Nikisch bis Norrington
Beethovens 5. Sinfonie auf Tonträger. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
Wohl kaum ein Werk wurde so häufig aufgenommen wie die 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven, und das von Beginn der Tonträgergeschichte an (als erste Gesamteinspielung einer Sinfonie überhaupt). Lars E. Laubhold stellte sich der Herausforderung, die 100-jährige Interpretationsgeschichte nachzuzeichnen und wählte aus 605 (!) Aufnahmen (Stand 2009) etwa ein Viertel aus. Er stützt sich auf die Einteilung seines Salzburger Lehrers Jürg Stenzl in einen deutsch-österreichischen Espressivo-Modus in Wagnerscher Tradition (also Tempomodifikationen und Auskosten von Zäsuren und Pausen à la Arthur Nikisch) und einen neusachlichen Interpretationsmodus ab den 1920er Jahren (à la Roger Norrington).
Zu Beginn erörtert Laubhold seine Methodik, gibt einen Abriss der Interpretationsforschung auf Tonträgern und analysiert Werk und Aufführungsgeschichte. Den größten Umfang hat der historische Teil. Jede Aufnahme wird auf unterschiedliche Weise dargestellt: Entstehungsgeschichte, Rahmenbedingungen und, soweit vorhanden, historische Textdokumente. Für die messtechnische Analyse der musikalischen Zeitgestaltung modifiziert Laubhold das Verfahren, um die sehr unterschiedlichen Aufnahmen vergleichen zu können: Neben den reinen Zeiten untersucht er mittels der Software Sonic Visualizer auch Relationen, Tempo- und Dauernverhältnisse zwischen definierten Messbereichen sowie klangliche und instrumentatorische Parameter. Die Ergebnisse sind in Schaubildern dargestellt, hinzu kommen Abbildungen und Notenbeispiele.
75 Klangbeispiele mit Ausschnitten auf CD belegen das Geschriebene; kurze Erläuterungen der Ausschnitte sind in den Text eingebettet. Die Auswahl ist sehr klug, die Besonderheiten der einzelnen Ausschnitte und ihre Kontraste sind ohrenfällig, insbesondere bei den montierten Gegenüberstellungen von bis zu drei Beispielen. Gerade beim direkten Vergleich kommt man zu erstaunlichen Hörerlebnissen.
Fazit: Das Verfahren, Aufnahmen unter dem Aspekt eines Widerstreits von Espressivo und neuer Sachlichkeit einzuordnen, hat sich bewährt. In der Anfangszeit gibt es eine Vielfalt an Ansätzen. Ab den 1950er Jahren um und nach Karajan herrscht der neusachliche Interpretationsmodus vorher, wobei Karajan selbst eine sachlich-modernistische Grundhaltung und dezente Expressivität vereint. Nach Karajan gibt es einen Trend zu weiterer Versachlichung mit wenigen Ausnahmen wie z.B. Carlos Kleiber.
Die Erkenntnisse sind im Wesentlichen nicht völlig überraschend, aber bisher noch nicht so ausführlich dokumentiert. Interessant ist beispielsweise, dass vor allem in romanischen Ländern relativ eigenständige Konzepte der Beethoven-Interpretation verfolgt wurden.
Als Kritikpunkt bleibt der Umfang von 649 Seiten. Eine stärkere Konzentration und Beschränkung auf weniger Beispiele hätten der Lektüre und dem Nachvollziehen der Argumentation gut getan. Die Veröffentlichung dürfte die bisher umfangreichste zur Interpretationsgeschichte eines Einzelwerks auf Tonträgern sein.
Peter Overbeck