Berg, Alban

Violinkonzert

nach dem Text der Kritischen Gesamtausgabe, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Universal Edition, Wien 1996/2006
erschienen in: das Orchester 03/2007 , Seite 84

Als vor zehn Jahren bei UE im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Alban Bergs die von Douglas Jarman erstellte Neu-Edition des Violinkonzerts erschien, kam das Resultat einer kleinen Sensation gleich: Staunend nahm man mehr als 20 zum Teil beträchtliche Abweichungen im Vergleich zum bekannten Notentext zur Kenntnis. Wie war das möglich? Hatte man uns bis dato eine derart fehlerbelastete, schlampige Ausgabe dieses einzigartigen Meisterwerkes aufgetischt? Oder war man plötzlich auf eine bis dahin unbekannte neue Quelle, etwa eine weitere Handschrift des Komponisten gestoßen?
Mitnichten. Die Neuausgabe ist vielmehr das Resultat einer sehr eingehenden Beschäftigung Jarmans mit diesem Werk unter dem besonderen Aspekt seiner Entstehungsgeschichte. Berg starb bekanntlich nur vier Monate nach Beendigung der Komposition noch vor der Erstaufführung. Er hat das Violinkonzert nie in seiner Endgestalt gehört und konnte auch die hastig angelaufenen Vorarbeiten zur Veröffentlichung der Partitur nicht mehr selbst bis zum Abschluss kritisch begleiten. Ausgehend von diesen Umständen zog Jarman neben der Originalpartitur eine Reihe weiterer handschriftlicher Quellen – Particell, erste Niederschrift und eine Reihe von Skizzen – zum Vergleich heran und stieß auf viele Ungereimtheiten, Schreibfehler des Komponisten, wie er meint, die er in der Neuausgabe korrigierte, dabei vom Text der autografen Partitur immer wieder abweichend.
Sicher dürfte es kaum jemanden geben, der sich mit dem Werk Bergs so eingehend über lange Zeit hinweg befasst hat wie Douglas Jarman. Dennoch kann ich mich eines etwas zwiespältigen Gefühls nicht erwehren. Es geht um die Methode: Wir haben in den vergangenen 15 Jahren immer wieder erlebt, dass manches Werk im Rahmen so genannter „kritischer Neu-Editionen“ beträchtliche Eingriffe erdulden musste, dass Kompositionen vielfältig „ergänzt“ wurden, z.B. durch Tempobezeichnungen und -übergänge, Phrasierungsbögen u.a. mehr (etwa das Klaviertrio von Charles Ives), gar der Notentext einer „Systematisierung“ unterzogen wurde.
Folgen kann ich Jarman insoweit, als dem Komponisten wohl keine Zeit mehr blieb, sein Autograf sorgfältig durchzusehen, sodass es wahrscheinlich Fehler aufweist. Der Teufel steckt hier im Detail. Plausibel erscheint mir z.B., dass Berg am Beginn des 2. Satzes das Oktava-Zeichen sowie zwei Hilfslinien in der Solostimme vergessen haben muss. An anderer Stelle bewundere ich die Selbstsicherheit, mit der Jarman in Intervallstrukturen von Sequenzen verändernd eingreift, indem er sie an Parallelstellen angleicht (z.B. erster Satz T. 192, T. 172 etc.), dazu noch ohne die Abweichungen im Text kenntlich zu machen. Ist tatsächlich zur Gänze auszuschließen, dass der Komponist sich hier bei der Partitur-Reinschrift mit voller Absicht für eine Variante entschieden hat (selbst für den Fall, dass sich so möglicherweise ein Widerspruch zu einer früheren Skizze ergibt)? Schließlich kennen wir bei Bach, Mozart, Beethoven derartige Fälle zuhauf, ohne dass es uns einfiele, die Passagen angleichend zu verändern.
Umso wichtiger wäre mir ein detaillierter Revisionsbericht gewesen, der leider sowohl im Klavierauszug wie in der Taschenpartitur und auch in der vorliegenden Dirigierpartitur fehlt. So kann ich den Jarman’schen Text nur zur Kenntnis nehmen. Ich zöge es allerdings vor, mir an kritischen Stellen beim Studium meine eigene Meinung zu bilden. Da hilft mir auch der Hinweis im Vorwort auf den Kritischen Bericht, der im Rahmen der Gesamtausgabe erscheinen soll, nicht entscheidend weiter. Ansonsten ist die Ausgabe untadelig, allerdings für meinen Geschmack im Notenbild ein wenig eng und daher nicht übermäßig „lesefreundlich“ geraten (Vorzeichen!)
Herwig Zack