Scheit, Gerhard / Wilhelm Svoboda
Treffpunkt der Moderne
Gustav Mahler, Theodor W. Adorno, Wiener Traditionen
Das Werk Gustav Mahlers steht auf der Schnittstelle zwischen Tradition und Moderne. Der Dirigent Michael Gielen bringt dieses Phänomen treffend auf den Punkt, indem er im Gespräch mit den beiden Wiener Kulturwissenschaftlern Gerhard Scheit und Wilhelm Svoboda betont, dass Mahler die Inhalte des 20. Jahrhunderts mit der Sprache des 19. übermittle. Diese Feststellung bildet gewissermaßen den Ausgangspunkt für die facettenreiche und über weite Strecken an Theodor W. Adornos Mahler-Schriften orientierte Publikation von Scheit und Svoboda. In Auseinandersetzung mit der Zweiten Wiener Schule spüren sie Mahlers Position in der Moderne nach und fügen dem Buch außerdem aufschlussreiche Interviews über Mahlers Musik mit Michael Gielen, der Musikologin Herta Blaukopf und der Komponistin Olga Neuwirth über Mahlers Musik an.
In ihren Forschungen stoßen Scheit und Svoboda verschiedentlich auf die Tatsache, dass die Mahler-Rezeption bis heute von antisemitischen und antimodernen Ressentiments durchzogen ist insbesondere in Wien, wo Mahler von 1897 bis 1907 als Hofoperndirektor wirkte. Dies belegen sie mitunter an drastischen Beispielen. So lehnte der musikwissenschaftliche Ordinarius Erich Schenk, über 1945 hinaus ein überzeugter Antisemit, lange nach dem Ende der NS-Herrschaft eine Doktorarbeit über den Mahler-Zeitgenossen Franz Schreker ab, weil man bei ihm über einen Juden nicht dissertieren könne. Derselbe Erich Schenk war ehedem Mitarbeiter beim Völkischen Beobachter und recherchierte fürs Lexikon der Juden in der Musik, das Mahler als fanatischen Typus des ostjüdischen Rabbiners beschrieb. Nichtsdestotrotz druckten die Wiener Philharmoniker noch 1990 in einem Programmheft unkommentiert einen Mahler-Beitrag von Schenk ab, als handle es sich bei diesem um einen unbescholtenen Mahler-Kenner.
Antisemitische Ressentiments sind in der neueren Mahler-Rezeption zwar nicht mehr direkt zu erkennen, doch wurden sie durch antimoderne ersetzt. Die Forscher setzen stattdessen auf die Quellen, die Dirigenten aufs Gefühl, die Journalisten auf die Phrase, so die Bilanz von Scheit und Svoboda über die gegenwärtigen Tendenzen in der Mahler-Rezeption. Tatsächlich sei die Moderne jedoch genuin bei Mahler zu verorten insbesondere in dessen Drang zur Desintegration: Einzelne musikalische Einfälle und Gesten würden in Mahlers Musik nicht einfach in die Gesamtidee des Werks integriert, sondern behielten ihre Autonomie zumindest ein Stück weit bei. Die Moderne bildet für die beiden Kulturwissenschaftler aber freilich keinen erratischen Block, sondern ein von (bisweilen unauflösbaren) Widersprüchen durchzogenes Feld, was sich wiederum bei Mahler in besonderer Deutlichkeit manifestiere: An der Musik Mahlers wurde deutlich, dass die Moderne selber verschiedene, ineinander nicht auflösbare Formen beinhaltet, die dennoch aufeinander verweisen und darum eine Bestimmung dessen, was Moderne überhaupt ist und sein kann, in einem anderen Sinn notwendig machen, als es der bloße Stil- und Epochenbegriff zu leisten vermag.
Fritz Trümpi