Johannes Brahms
The Symphonies
Musikkollegium Winterthur, Ltg. Thomas Zehetmair
Brahms und Winterthur: schon zu Lebzeiten des Komponisten eine gewinnbringende Beziehung für beide Seiten. Brahms hielt sich dort wiederholt und sehr gerne bei der Familie Rieter-Biedermann, wo auch eifrig musiziert wurde, auf. Vor allem jedoch fand er im Familienoberhaupt Jakob Melchior einen geschätzten Musikverleger, der insgesamt 22 seiner Kompositionen veröffentlichte. Die beiden führten einen regen Briefverkehr miteinander.
Mit einem sechstägigen Brahms-Festival krönte Thomas Zehetmair, der seit Beginn der Saison 2016/17 bis August 2019 Chefdirigent des Musikkollegiums Winterthur gewesen ist, seine letzte Konzertsaison. Die vorliegenden vier Symphonien wurden hier eingespielt. Zuvor hat Zehetmair sich nach seiner eigenen Aussage bereits „mittlerweile etwa fünfzehn Jahre“ lang mit einer speziellen und wichtigen aufführungspraktischen Quelle beschäftigt, und zwar mit dem „Meiniger Konzept“ von Fritz Steinbach, der für eine lange Tradition eigener Dirigierpraxis stehen soll.
Brahms selbst war bekanntlich oft in Meiningen, dirigierte die Uraufführung seiner letzten Symphonie und soll Steinbach für den besten Interpreten seiner Werke gehalten haben. Jenes Konzept soll unter anderem den „dicken Brahms-Klang in seine Bestandteile“ auflösen und Neues ans Tageslicht bringen. Für Zehetmair waren insbesondere jene Ideen und Beschreibungen inspirierend, die sich auf die „agogischen und rhythmischen Freiheiten“ beziehen, dabei „harmonische Wendungen aufspüren, um sie richtig auszubalancieren und versteckte Zusammenhänge offenzulegen“. Er wollte so durch die unglaublichen Wunder führen, die „bei einem Meisterwerk passieren“.
Mit wachem Sinn hört man nun ganz genau zu, ob Brahms’ Musik im neuen Gewand ertönt. Tatsächlich erscheint der Orchestersatz jeweils durchsichtig und gelöst, die Bläser strahlen im Glanze. Zehetmair setzte wohl gerade da eine kammermusikalische Feile an, sodass sie wunderbar und ausdrucksvoll spielen können. Auf Fritz Steinbach geht wohl die Hervorhebung der bemerkenswerten Elastizität der Zeitmaße zurück, die bekanntlich zu Brahms’ besonderen Stileigentümlichkeiten gehören. Trotz der häufigen agogischen Freiheiten in einem Mehr und Weniger, die romantische Gegensätzlichkeit charakterisieren, drückt Zehetmair die großen Melodiebögen relativ einheitlich und organisch aus, und das in fließenden Bewegungen mit feinem Puls und moderaten Tempi, und zwar nicht nur in der ersten Symphonie. Ausgesprochen gelungen gestaltet sich hierbei die dritte Symphonie, worin der Dirigent ein feines Verständnis für die Stimmverästelungen zeigt, er die oft starken Gegensätze zu einer inneren Einheit verschmilzt. Insbesondere der langsame, sehr intim gestaltete Satz verströmt eine verklärte Schönheit des Klanges. Dagegen scheint das Orchester in der e‑Moll-Symphonie seine Grenzen zu spüren, obwohl auch hier Ausdruck und Dynamik gut austariert sind, während die zweite sich durch Vitalität, Intensität und hoher Spielfreude auszeichnet.
Werner Bodendorff