Sandström, Sven-David / Ingvar Lidholm
The High Mass / Kontakion für Orchester
Sven-David Sandström gehört zu den wenigen Komponisten von Rang, die sich heute noch mit geistlicher Musik beschäftigen. Soll man sagen: die sich dazu herablassen? Oder: die den Mut haben, das zu tun? Oder sogar: das Bedürfnis? Die Kirche beider großen Konfessionen ist drauf und dran, ihre liturgische Basis, mithin das Ritual des spirituellen Erlebens, aufzuweichen und die Kunst aus ihren Mauern zu verbannen. Attraktive Aufträge und Anlässe winken da schon lange nicht mehr, was der in der Regel aufgeklärten, religions- und kirchenkritischen Haltung der meisten jüngeren Komponisten entgegenkommt. Sandström, der aus der schwedischen Provinz stammt, wurde im Posaunenchor musikalisch sozialisiert. Er hat viele Genres ausprobiert: Drei Opern, darunter Das weiße Schloss, wurden allein 1984 uraufgeführt, hinzu kamen große Orchesterstücke, die in aller Welt gespielt wurden und werden. (Auf der Homepage von Swensk Music http://www.mic. stim.de spricht Sandström ausführlich über seine Ästhetik).
Sven-David Sandström lebt in Amerika; er unterrichtet an der Indiana University. Die Bezüge zur skandinavischen Musikheimat hat er nicht verloren. Und die umfasst in schöner Tradition Chormusik. Vor gut zehn Jahren, 1993/94, begab sich Sandström mitten hinein ins verwaiste Zentrum geistlicher Musik. Im Auftrag des schwedischen Rundfunks komponierte er The High Mass, den ökumenischen Messetext in 25 Nummern, hierin der bachschen h-Moll-Messe ähnlich. Die Nachbarschaft ist gewollt: Sandström machte es Spaß, wie er selbstbewusst sagte, sich neben Bach zu setzen. Das neunzigminütige Stück für Solostimmen, Chor, Orgel und großes Orchester ist aber auch ein großer Wurf. Es ist und macht im wahrsten Sinne des Wortes high. Drei Sopranstimmen und zwei Mezzos bilden die Solisten-Crew; und auch der Chor wird immer wieder in die Höhe geführt.
Sandström, längst dem unscharfen Avantgarde-Begriff abhold, wollte die Menschen mit seiner Musik berühren. Und das geschieht vom ersten Ton an. Keine traditionelle Demutsgeste verstellt den Aufschrei nach Erbarmen im Kyrie. In ambivalenter Tonalität torkeln die Gloria-Rufe. Der Friedenswunsch fällt, wie später auch das Et incarnatus est, in minimalistische Strukturen. Im Gloria werden sie durch das eruptiv-ekstatische Gratias agimus abgelöst, hinter dessen schweren Schlagzeug-Gewittern silbrige Orgelklänge glänzen. Im Credo folgen streng hüpfende Notre-Dame-Schule-Rhythmen und gefühlige Sextengänge auf das ex Maria virgine. In dieser Messe passiert ständig etwas Neues, Überraschendes. Hören in theologischen Abbildern, wie man es von Bach gewöhnt ist, führt hier kaum zu einem nennenswerten Erkenntniswert. Qui sedes im kontrapunktisch beschwingten Walzer-Takt, das Miserere nobis als Parodie auf den Kult der hohen Töne des Sopran-Gewerbes, das rhythmisch komplexe Cum sancto spiritu in akzentuiertem Drive oder der von einem flügelleichten Et resurrexit abgelöste, wuchtige Crucifixus-Trauermarsch Sandström macht mit viel Fantasie aus The High Mass ein berauschendes Klangerlebnis über diffizilen Strukturen.
Die vorliegende Aufnahme ist die zweite auf dem Markt befindliche. Sie entstand während des Bachfests Leipzig 2003 und lässt, trotz (oder wegen?) des Live-Charakters, keine Wünsche offen. Ergänzt wird sie durch das gänzlich anders geartete Kontakion (1978) von Sandströms Lehrer Ingvar Lidholm: eine flächige, vorwiegend die Streicher beschäftigende Musik von modaler Harmonik und altertümlichem melodischen Gestus.
The High Mass ist eine Konzertsaalmesse. Hierhin ist die bewegende geistliche Musik seit langem ausgewandert und hier sollte die Messe oft aufgeführt werden, ein dankbares Stück für Chöre, Orchester und fürs Publikum. Vielleicht seit Beethovens Missa solemnis hat es keine so große, subjektive und erratische Herzensmusik mehr gegeben. Sandström macht indes weiter: Nach dem 2005 beim Europäischen Musikfest Stuttgart uraufgeführten Magnificat harrt im Frühjahr 2006 in Stockholm seine Passion ihrer Premiere.
Andreas Bomba