Mahler, Gustav
Symphony X
for large orchestra, realisation and elaboration of the unfinished drafts by Yoel Gamzou, International Mahler Orchestra, Ltg. Yoel Gamzou
Gustav Mahlers bei seinem Tod 1911 nur in Fragmenten und Entwürfen hinterlassene 10. Sinfonie ist ein einzigartiger Fall der Musikgeschichte. Dieses Kapitel versucht 100 Jahre später der junge israelisch-amerikanische Dirigent und Komponist Yoel Gamzou mit einer mutigen Initiative neu zu deuten. Dies trotz all der bisherigen Erörterungen und Bemühungen um diesen Nachlass.
Bereits in einer 1913 erschienenen Monografie des sich für Mahlers Musik einsetzenden Richard Specht heißt es: Dieses Werk wird
niemals zum Erklingen gelangen. Mahler forderte, dass es nach seinem Tod verbrannt werde. Trotzdem ließ Alma Mahler womöglich auch gemäß anderer Maßgabe ihres Gatten 1924 die Skizzen im Faksimile drucken und bat den jungen Komponisten Ernst Krenek, eine aufführbare Partitur zu erstellen. Er wählte das eröffnende Adagio und den dritten Satz Purgatorio, beraten von Alban Berg, zur Bearbeitung aus. Diese Partituren wurden in Wien durch Franz Schalk und in Prag durch Alexander von Zemlinksy aufgeführt.
Alma Mahlers Anfragen in den 1940ern bei Schostakowitsch und Schönberg, die ganze Sinfonie zu erstellen, hatten keinen Erfolg. Andere gingen indes von sich aus an die Arbeit, orientiert am vermeintlich typisch Mahlerischen, einem Nebeneinander von hohem Ernst und zitiertem Trivialem. Was entstand dabei? Ist das Mahlers Musik in Abwesenheit ihres Erfinders? Der Engländer Deryck Cooke war am erfolgreichsten. Seine 1959 begonnene Konzertfassung hat Berthold Goldschmidt 1964 in London uraufgeführt. Anerkennung fand auch die 2001 vorgestellte Fassung des Russen Rudolf Barshai. Und jetzt also Yoel Gamzou, der sein Projekt mit einem enthusiastischen Essay begleitet. Ähnlich wie Cooke seine Arbeit in keiner Weise eine Vollendung oder Rekonstruktion nannte, sieht Gamzou jede Bearbeitung als extrem heikel, ethisch schwierig an. Doch habe er sich vollständig der Vorstellung von den Intentionen des Komponisten untergeordnet.
Das von Mahler am weitesten ausgeführte, oft gespielte und aufgenommene Adagio überrascht bei ihm mit extrem leisem Beginn. Aus dem Bratschenthema blüht das Orchester erst allmählich auf. Unerwartete Tempovariationen sorgen für mehr Spannung als gewohnt, und größere dynamische Kontraste bieten den starken, beredten Ausdruck. In den kammermusikalischen Details wunderbar musiziert fallen neuartige Farben auf. In fast völlige Stille bricht extrem laut der erste Cluster zum Aufbau des neuntönigen Katastrophenakkords herein, der dann dumpf und verhangen erklingt. Der Abgesang führt zum fast nicht mehr Hörbaren. Das Scherzo sei es brachial heftig oder lyrisch intim ist in jeder Sekunde packend. Das Purgatorio hat in nur fünf Minuten eine riesige Bandbreite. Eine Achterbahn der Visionen ist das Allegro pesante. Das Finale die Botschaft der Akzeptanz des Schicksals, so Gamzou kann tief berühren. War es beim Adagio noch Verblüffung, die sich einstellte, so ist es am Ende Begeisterung.
Günter Buhles