Drüner, Ulrich / Georg Günther
Musik und “Drittes Reich”
Fallbeispiele 1910 bis 1960 zu Herkunft, Höhepunkt und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Musik
Wie hat sich die Musik im Dritten Reich entwickelt? Gibt es überhaupt so etwas wie eine typische Nazi-Musik, und wie wirkte sich der Nationalsozialismus auf das musikalische Leben nach dem Krieg aus?
Diesen und anderen Fragen sind die Musikantiquare Ulrich Drüner und Georg Günther nachgegangen. Durch die Auswertung bislang unbekannter Dokumente entsteht das detailgetreue Bild einer Epoche, in der Musik vor allem propagandistische Zwecke erfüllen musste. Die Musik, schreiben Drüner und Günther, wurde als nach dem damaligen Verständnis emotionalste Kunst betrachtet, die über die stärksten Benebelungseffekte des Intellekts verfügt.
Tatsächlich reichen die Wurzeln des nationalsozialistischen Musik-
verständnisses bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück, sodass die Nazis sich auf eine bestehende Strömung berufen konnten: Die Musik wurde im Dritten Reich extrem schnell und nahezu vollständig in die Mechanismen der Diktatur integriert. Der musikalische Alltag im Dritten Reich gestaltete sich für viele als Gratwanderung, und dies zeigen die Autoren etwa anhand der Person Erwin Kerber, Direktor der Wiener Staatsoper, der sich haarscharf an der Grenze zwischen Kollaboration und Opposition bewegte: Erwin Kerber teilt das Schicksal vieler öffentlich exponierter Persönlichkeiten, die von Haus aus mit Sicherheit keine Nazis waren, die sich jedoch auf der einen Seite ,schuldig machen mussten, um auf der anderen Seite so weit als möglich Würde und Anstand bewahren zu können.
Bald widmete sich das Regime der Aufgabe, die musikalische Szene vor allem von jüdischen Elementen zu reinigen und dies trieb mitunter seltsame Blüten, wenn es etwa um die in Wien populäre Strauß-Dynastie ging, die wie sich herausstellte mosaische Wurzeln hatte. Da es unmöglich war, Strauß-Walzer aus dem Repertoire zu verbannen, eliminierte man kurzerhand in den Kirchenbüchern alle Hinweise auf jüdische Vorfahren der Familie Strauß. Gefährlich wurde es für lebende jüdische Komponisten und Musiker: Wer nicht rechtzeitig floh, wurde deportiert und ermordet, und Drüner und Günther versuchen, viele dieser Künstler wie Erwin Schulhoff, James Simon oder Viktor Ullmann dem Vergessen zu entreißen.
Und wie wirkte sich die Nazi-Vergangenheit auf die Musikszene nach dem Zweiten Weltkrieg aus? Drüner und Günther erzählen von Geschichtsklitterung, von der Idee, fragwürdige Seiten in einer Festschrift einfach zusammenzukleben (frei nach dem Motto: ni vu, ni connu nicht zu sehen, nicht existent), von der Neuverwendung der Nazi-Musik und der Wiederauferstehung etwa des Dirigenten Karl Böhm, der sich zunächst für die Nazis engagierte und später die Vergangenheit ausblendete. Immer
jedoch bewahren sich die Autoren den sachlichen Blick, und damit haben sie ihr Ziel erreicht:
wirklich hautnah an die Arbeit der Musiker und Musikwissenschaftler im Dritten Reich heranzukommen.
Irene Binal