Mahler, Gustav
Lieder aus “Des Knaben Wunderhorn”
Die Verflechtung von Lied, Liedzyklus und Symphonie stellt ein einzigartiges Merkmal von Gustav Mahlers Schaffen dar. Dabei stellt sich die Beschäftigung mit der von Clemens Brentano und Achim von Arnim zusammengestellten Gedichtanthologie Des Knaben Wunderhorn, veröffentlicht zwischen 1805 und 1808, als zentral heraus. Diese Ausgabe, die Mahler von der Sängerin Anna Bahr-Mildenberg 1895 geschenkt bekam (Welche Freude ich mit diesem reizenden Buch habe, können Sie sich gar nicht denken, lautete der Dank des Beschenkten), fand reichen Niederschlag in seinem Werk. Die 14 Lieder nach Gedichten aus Des Knaben Wunderhorn, die in Orchesterfassung vorliegen und die Markus Stenz mit dem Gürzenich-Orchester eingespielt hat, bilden zwar keinen Zyklus, sind thematisch aber eng verklammert.
Ebenso eng sind die schon angesprochenen Bezüge zum sinfonischen Schaffen Mahlers: Er übernahm Urlicht in seine 2. Sinfonie, Das himmlisch Leben war schon für die Dritte vorgesehen, bevor es im Finale der 4. Sinfonie seinen Platz fand. Zudem lieferte Des Antonius von Padua Fischpredigt das thematische Material für das Scherzo der 2. Sinfonie. Mahler ging mit seinen Textvorlagen frei um, kürzte die Gedichte, kombinierte zwei von ihnen miteinander oder fügte Textzeilen hinzu. Seine Sicht auf die Wunderhorn-Lieder ist keine verklärende. Zwar sind viele von ihnen von (einem durchaus bissigen) Humor oder von Ironie geprägt. Ebenso oft steht Todesahnung und -erwartung im Vordergrund. Die menschliche, nicht die tierische Dummheit ist Thema der Fischpredigt des Antonius von Padua. Auch wenn die Liebe in den Wunderhorn-Liedern eine große Rolle spielt, ist sie doch selten so unproblematisch wie im Rheinlegendchen.
Nicht immer ist es eindeutig, für welche Stimme Mahler die Lieder vorgesehen hatte. Seine Anmerkung, sie seien alle für Männerstimme geschrieben, hat er selbst durch die eigene Aufführungspraxis widerlegt. Markus Stenz stehen mit der kraftvoll-lyrischen Sopranistin Christiane Oelze und dem Bariton Michel Volle zwei ungemein textverständliche Interpreten zur Verfügung. Beide zeichnen sich durch eine den Text und den musikalischen Subtext, der sich oft in grimmig-hintersinnigen Orchesterkommentaren Mahlers entdecken lässt, auslotende Sicht auf die Lieder aus. Oelzes farbenreicher, aber immer auch mit einer Spur Distanz agierender Sopran und der klangvolle, dabei stets nuancierte Bariton Volles lassen wenig Wünsche offen.
Analog zu den Sinfonien Mahlers, die Stenz mit dem bestens vorbereitet wirkenden Gürzenich-Orchester aufnimmt, gelingt es ihm auch bei den Liedern der Vielschichtigkeit Mahlers gerecht zu werden. Scheinbar Banales wird ebenso ernst genommen, wie Sentimentalität keinen Raum erhält. Der Volksliedton, der gelegentlich angeschlagen wird, ist immer nur ein scheinbarer. Stenz geht zwar nicht ganz so weit in der kammermusikalischen Auffassung der Wunderhorn-Lieder wie beispielsweise Riccardo Chailly mit dem Royal Concertgebouw Orchestra; seine Sicht, die er dank des sehr ausgewogen musizierenden Kölner Orchesters hier präsentiert, kann aber sehr für sich einnehmen.
Walter Schneckenburger