Milhaud, Darius

Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 op. 93 / Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 op. 263 / Le Boeuf sur le toit op. 58

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Orfeo C 646 051 A
erschienen in: das Orchester 03/2006 , Seite 86

Darius Milhaud (1892-1974) genießt in Frankreich auch heute noch, dreißig Jahre nach seinem Tod, hohes Ansehen. In Deutschland begegnet man seinen Werken eher selten. Oft hört man leider immer noch das Vorurteil, seine Musik sei zu trivial, zu oberflächlich, zu wenig durchgearbeitet – als Lob wird geurteilt, seine Werke verrieten Esprit und melodischen Witz. Das Mitglied der Group des Six in Paris schrieb Bühnenwerke (auch Ballette), Kammermusik, zwölf Sinfonien, Chorstücke und Konzer-te für Solo-Instrumente. Davon sind zwei auf dieser Einspielung zu hören: Die Violinkonzerte stammen aus verschiedenen Arbeitsphasen (1927 und 1946) und spiegeln die jeweilige kompositorische Situation des überaus produktiven Franzosen.
Milhaud stammte aus Aix-en-Provence, lernte schon als Kind das Geigenspiel, wurde ab 1909 am Pariser Conservatoire unterrichtet. Die Violine blieb ihm das nächste Instrument: In den Streichquartetten und in den Kammersinfonien nimmt die Violine einen hohen Rang ein. Dass der Schüler von Paul Dukas und Freund von Jacques Ibert und Arthur Honegger Solo-Konzerte für die Geige schrieb, lag also nahe. Da sich Milhaud gegen Wagner (bzw. den Wagnerismus) und eine „schwülstig“ empfundene Romantik wandte, bemühte er sich in seinem ersten Violinkonzert um entsprechende Parameter: „Klarheit, Einfachheit, Transparenz“, hieß die Formel für ihn und die „Six“-Fans. Er schrieb das Stück während seiner USA-Reise für die Geigerin Suzanne Suter-Sapin. Die drei knapp formulierten Sätze dauern gerade einmal zehn Minuten: ein Paradebeispiel für die „Neue Schule“ dieser Komponistengeneration. Die Mischung von Milhauds Tonsprache ergibt einen steten Wechsel von energischen Schüben und lyrischem Verweilen (ohne jede Süße). Dass zuweilen im Finale der Anklang an Maschinengeräusche registriert werden kann, kommt nicht von ungefähr. Milhaud arbeitete seine Klangimpressionen einer Zugfahrt ein. Außerdem war er fasziniert von Technik und deren Prozessen.
Opus 263 dokumentiert seine kompositorische Weiterentwicklung. Krieg und Tod fließen gedanklich in die drei Sätze ein. Schon die Bezeichnung verweist auf emotionale Bezüge: „Dramatique“, „Lent et sombre“, „Emporté“. Groteske Bilder tauchen vor dem geistigen Auge auf, der Marschrhythmus assoziiert die Weltkriegskatastrophe, ungestüme Heftigkeit trifft auf Leidenschaft. Der zweite Satz gibt sich eher verschattet, eine Klage baut sich gesanglich auf. Das Finale überrumpelt mit spektakulärer Farbigkeit, gegen die sich die Violine behaupten muss.
Die junge Münchnerin Arabella Steinbacher, Jahrgang 1981, bringt für die beiden Raritäten das richtige Temperament mit: Die bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnete Künstlerin, Stipendiatin der Anne-Sophie-Mutter-Stiftung, geht mit Verve und Hingabe an diese nicht allzu aufwändigen Stücke heran. Sie betont die Präambel der „Six“: die Trias von Klarheit, Transparenz und Einfachheit. Ihr Ton bleibt dennoch warm timbriert, sie nutzt die Möglichkeiten der Bogentechnik, wandelt auf virtuoser Spur, ohne eitles Nach-vorn-Drängen. Sie dient dem Werk, der Vorgabe des Komponisten.
Das Münchner Rundfunkorchester unter dem Dirigat von Pinchas Steinberg bleibt jederzeit ein verlässlicher und mitgestaltender Partner. Dass das Ensemble aber auch intensiv und inspiriert auftrumpfen kann, hört man bei der CD-„Zugabe“: der verqueren Ballettmusik zu Le Bœuf sur le toit. Dieser Ochse auf dem Dach kommt brasilianisch daher. Man findet viele Bezüge zur Musik des Subkontinents. Samba, Tango, aber auch die Anleihe beim Fado Portugals prägen den witzigen Stil dieser Musik, die Jean Cocteau für eine Ballettpantomime nutzte. Die Musik bebildert surreale, clowneske Kneipenszenen. Milhaud wurde auf Grund dieser theatralisch bedingten Musik seinerzeit als Jahrmarktsmusiker unterschätzt.
Jörg Loskill