Spinola, Julia

Die großen Dirigenten unserer Zeit

Mit ausführlichem Lexikonteil

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel, Berlin 2005
erschienen in: das Orchester 03/2006 , Seite 75

Während es an lexikalisch angelegter Literatur über große Komponisten, Instrumentalisten oder bedeutende Sängerpersönlichkeiten nicht mangelt, werden Dirigenten bislang eher etwas stiefmütterlich behandelt. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang natürlich immer noch Harold C. Schonbergs Große Dirigenten, auch wenn das Buch inzwischen überholt ist. Nun sind zeitnah zwei mit beachtlicher Fachkompetenz geschriebene Bücher erschienen, die von unterschiedlichen Ausgangspunkten ausgehend sich eingehender mit den bedeutenden Orchesterleitern befassen.
Enger vom zeitlichen Rahmen her hat Julia Spinola, Musikkritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Großen Dirigenten unserer Zeit einer kritischen Würdigung unterzogen. Sie hat diejenigen ausgewählt, denen man im deutschen Sprachraum „live“ begegnen kann oder in jüngerer Vergangenheit konnte. Wieso indes Lorin Maazel, der in den 1990er Jahren in München aktiv beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks war, ebenso wie James Levine, der eine Chefposition bei den Münchner Philharmonikern bekleidete, hier ausgespart wurden, mag ebenso das Geheimnis der Autorin bleiben wie die Verbannung von Wolfgang Sawallisch in den ansonsten sehr guten lexikalischen Teil ihres Buchs.
Schwerpunkt von Die großen Dirigenten unserer Zeit bilden dreißig Porträts, die nach typologischen Einteilungen versuchen, Kategorien für die unterschiedlichen Dirigententypen aufzustellen und zu erläutern. Neben einem knappen biografischen Überblick werden entscheidende Stationen der musikalischen Entwicklung der jeweiligen Dirigenten nachgezeichnet. So finden sich unter der Überschrift „Formanalytiker und Formdramatiker“ beispielsweise Dirigenten wie Claudio Abbado, Michael Gielen, Kent Nagano oder Riccardo Muti, bei den „Energetikern und Verführern“ Daniel Barenboim und Christian Thielemann; Sir Simon Rattle und Mariss Jansons werden den „Detailbesessenen“ zugeordnet, bei „Klanganalytikern und Klangmagiern“ finden wir Pierre Boulez ebenso wie Riccardo Chailly. Aber auch die „Hohe Kunst der Solidität“ wird in Gestalt von Bernhard Haitink und Kurt Masur gewürdigt.
Schon dieser kurze Überblick zeigt die Problematik des offensichtlich vom Denken Adornos mitgeprägten Ansatzes von Julia Spinola, der doch sehr heterogene, komplexe Dirigenten unter Kategorien subsumiert, die ihnen oft nicht angemessen erscheinen oder einfach zu schwammig formuliert sind, um einen wirklichen Erkenntniswert zu liefern. So Gewinn bringend manche Überlegungen der Autorin sind, so oberflächlich muss eingedenk des knappen Raums ihr Ansatz letztlich bleiben. Ebenso wie Wolfgang Schreiber in Große Dirigenten widmet sie ein Kapitel den Koryphäen der historischen Aufführungspraxis sowie dem Phänomen „Frauen erobern das Pult“.
Schreiber, lange Musikredakteur der Süddeutschen Zeitung, versucht mit seinem weitaus umfangreicheren Buch keine wissenschaftlich anmutenden Einteilungen zu erstellen, hingegen zeigt er, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, einen knappen Überblick über die Hauptströmungen der Dirigierkunst, wie sie sich im 19. Jahrhundert ausbildeten und bis weit ins 20. Jahrhundert nachweisbar sind. Er zeigt ausgehend von den Antipoden Wagner und Mendelssohn zwei Hauptlinien des sehr unterschiedlichen Umgangs mit der Umsetzung des Komponistenwillens auf. Es gelingt ihm, knapp, aber anschaulich eine solide Übersicht über die wichtigsten Dirigenten seit der Entstehung dieses „Berufs“ zu geben.
Der Hauptteil seines Buchs besteht aus sehr lebendigen, das Anekdotische nicht scheuenden Porträts der bedeutenden Dirigenten der Vergangenheit und Gegenwart, wobei auch hier weder Vollständigkeit angestrebt noch erreicht werden konnte. Die beiden Persönlichkeiten, in denen er die im 19. Jahrhundert begonnene Entwicklung fortgesetzt und personifiziert sieht – Wilhelm Furtwängler, der „Erbe der Romantik“, und Arturo Toscanini, der Sachwalter des niedergeschriebenen Willens des Komponisten, der unter der Überschrift „Portalfigur des 20. Jahrhunderts“ auftaucht –, nehmen dabei Schlüsselstellungen ein.
Wie Spinola fasst auch Schreiber Dirigenten gelegentlich in Kapiteln zusammen, doch bemüht er oft eher historisch-landsmannschaftlichte Zusammenhänge wie bei George Szell, Fritz Reiner und Eugene Ormandy („Drei Ungarn in der Neuen Welt“), Ferenc Fricsay und Georg Solti („Von Bartóks Geist erfasst“) oder von Franz Konwitschny und Kurt Masur, in denen Schreiber die sächsische Tradition verkörpert sieht.
Ein eigenes Kapitel ist Sergiu Celibidache gewidmet, in dem man so etwas wie eine künstlerische Leitfigur für Schreiber sehen kann. Überzeugend ist das Vermögen des Autors, die Person und den Musizierstil der Porträtierten lebendig werden zu lassen. Und zugleich wird die hohe Kompetenz des Autors deutlich, der heute weniger bekannte Dirigentenpersönlichkeiten wie beispielsweise Igor Markewitsch oder Jascha Horenstein einem breiteren Publikum wieder ins Gedächtnis ruft. Schreiber hat mit diesem Band ein sehr informatives, lesenwertes Buch geschrieben, das dem Leser unter Verzicht auf allzu viel Fachchinesisch einen sehr guten Überblick über die Entwicklung der Dirigierkunst bis zur Gegenwart bietet.
Walter Schneckenburger