(Louis) Théodore Gouvy

Décaméron

für Violoncello und Klavier, Bd. 1 und 2, hg. von Wolfgang Birtel

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Ponticello Edition, Mainz
erschienen in: das Orchester 11/2019 , Seite 65

Napoleon war schuld: Im 2. Pariser Frieden von 1815 fielen Teile Lothringens dem Königreich Preußen zu. Dies und die Tatsache, dass die lothringische Ortschaft Goffontaine heute als Saarbrücker Stadtteil Schafheide bekannt ist, mögen historische Randnotizen sein, doch welche Auswirkungen dergleichen auf eine Künstlerbiografie haben kann, zeigt das Schicksal des Komponisten Théodore Gouvy.
Durch Zufall zum Preußen geworden, fühlte sich der 1819 in Goffontaine Geborene zeitlebens als „Français au coeur“, durfte jedoch am Pariser Conservatoire kein Examen ablegen, nahm Privatunterricht und orientierte sich ästhetisch an der rechtsrheinischen Welt. Gouvy bezeichnete Haydn, Beethoven und Schumann als seine Vorbilder, seiner Musik sind zudem deutliche Einflüsse Mendelssohns zu entnehmen. Entsprechend seiner Hinneigung zur deutschen Tradition schrieb er mit Vorliebe Kammer-, Klavier- und sinfonische Musik. Zur Komposition seiner einzigen Oper Le Cid musste er förmlich überredet werden. Ironie des Schicksals: Nicht Paris, sondern die Dresdner Hofoper interessierte sich für das Werk, doch nachdem die dort 1865 geplante Aufführung nicht zustande gekommen war, blieb die Oper eineinhalb Jahrhunderte liegen – bis zu ihrer Premiere 2011 in Saarbrücken!
Dank einiger CD- und Notenveröffentlichungen sowie des 1995 ins Leben gerufenen Gouvy-Festivals in Hombourg-Haut wird dem Werk des Grenzländers in jüngster Zeit wieder verstärkt Aufmerksamkeit zuteil. Dass hier ein Fundus wohlgesetzter und wohltönender Musik auf weitere Erweckung wartet, lässt die neuveröffentlichte Sammlung Décaméron ahnen. Diese 1860 erstmals publizierten „10 Mor­ceaux pour Piano et Violoncelle“ sind eine Fundgrube charmanter, melodiöser und dabei nicht einmal allzu schwieriger Charakterstücke. Den Klaviersatz kennzeichnet über weite Strecken Mendelssohn’sche Leichtigkeit, sodass das Kardinalproblem vieler Cello-Klavier-Kompositionen – die „Zudeck“-Gefahr“ des Streichinstruments – kaum irgendwo zu Tage treten dürfte.
Der Cellopart enthält nahezu alles, was Kniegeiger-Herzen begehren und fordert nirgendwo zu technisch gewagten Aktionen heraus. Ein weiter Bogen spannt sich von „Liedern ohne Worte“ – wie etwa dem herrlichen Fis-Dur-Prélude und Stücken wie Nocturne, Romance, Ballade – über Piècen von raffinierter Schlichtheit – Pastorale, Villanelle – bis zu effektvollen Encores – Hongroise, Capriccio – und einem fast aus dem Rahmen fallenden, ausgedehnten Allegro marziale.
Herausgeber Wolfgang Birtel folgt in dieser Edition dem Pariser Erstdruck. Phrasierungs- und Artikulationsvarianten innerhalb der Stimmen oder zwischen Cello- und Klavierpart wurden, laut Herausgeber, „vorsichtig harmonisiert“. Einige Stichproben (der Erstdruck ist über IMSLP einzusehen) ergaben, dass hier mit Subtilität vorgegangen wurde.
Bereits im Jahr 1902 befand Gouvy-Biograf Otto Klauwell, dass der Vortrag dieser Stücke „sich für die Spieler wie die Hörer gleich genussreich erweist“. So ist es!
Gerhard Anders