Bach, Johann Sebastian
Christmas Oratorio
3 CDs
Zunächst verblüfft der Titel: Das Weihnachtsoratorium von Bach in einer durch und durch deutschen Aufnahme von 1950 aus dem Archiv des RIAS Berlin, mit deutschem Booklet, neu produziert vom Deutschlandradio Kultur und doch unter englischem Namen. Marketing, so scheint es, treibt bisweilen seltsame Blüten. Für den Kenner der historischen Bach-Pflege freilich ist diese CD-Box von besonderem Interesse, weil sie eine Aufführungspraxis bezeugt, die sich absetzt von der Tendenz, mit der in den Jahren davor in verhängnisvoller Analogie zum Wagner-Bombast der Nazizeit Bachs Musik ins Großformatige monumentalisiert wurde.
Die Einspielung des Weihnachtsoratoriums steht in Zusammenhang mit dem (unausgeführten) Plan Ristenparts in den Jahren nach dem Krieg, Bachs sämtliche Kantaten für den RIAS einzuspielen und dabei ein kulturpolitisches Zeichen zu setzen: Kantaten-Ring gegen Nibelungen-Ring als Signal einer geistigen Erneuerung. Bewusst wählte er nicht einen großen Oratorienchor für diese Weihnachtsoratorium-Aufnahme, sondern den kleineren RIAS-Kammerchor, der jedoch erst kurz zuvor gegründet worden war und noch nicht über die filigrane Beweglichkeit und klangliche Durchsichtigkeit verfügte, wie der Dirigent sie anstrebte und wie er sie im kurzlebigen, erst 1946 von ihm geformten RIAS-Kammerorchester besser verwirklicht fand. Dennoch verweisen gerade die Choräle auf sein modernes Konzept: Ihr nachdrücklich zügiges Tempo wird zum Vers-Ende nicht durch Fermaten gebremst, und bei Enjambements lässt der Dirigent sogar durchsingen auch dies ein Reflex der gleichzeitigen Reformbestrebungen im Gemeindegesang.
Dafür nimmt Ristenpart die großen Chöre (etwa zum Eingang des ersten und dritten Teils) und die Turbae-Stücke (etwa den Engel-Chor Nr. 21) deutlich langsamer, als es heute üblich ist. Das mag nicht zuletzt seine Gründe haben in den damals noch begrenzten stimmlichen Möglichkeiten der RIAS-Choristen. Aber auch in anderen Stücken betont der Dirigent deren behäbig ausgebreitete Festlichkeit wie etwa in der feierlich
gemäßigten Gangart der Bass-Arie (Nr. 8 Großer Herr, o starker König) oder im ruhigen Zeitmaß der Zions-Arie (Nr. 5).
Viele Entscheidungen dieser Einspielung erklären sich aus den Umständen ihrer Entstehung und ihrem Konzept. Einerseits ist sie (namentlich in den ersten drei Kantaten) in Teilen noch der zeittypischen Bach-Tradition verpflichtet, andererseits aber öffnet sie sich (vor allem in den weniger häufig aufgeführten und verfestigten Kantaten) einer moderneren Praxis. Das macht die Aufnahme, in der übrigens der ausgezeichnete Tenor Helmut Krebs und die damals noch sehr junge, aufstrebende Sopranistin Agnes Giebel als Solisten (neben der Altistin Charlotte Wolf-Matthäus und dem Bariton Walter Hauck) hörenswerte Akzente setzen, zu einem aufschlussreichen Tondokument des Übergangs.
Rüdiger Krohn